Gedanken


"An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser." Charlie Chaplin


Wenn ich Bekannten meiner Generation erzähle, dass ich die Lebensgeschichte meiner Eltern aufgenommen habe und wie dieser Prozess des Erzählens und Zuhörens unsere Beziehung vertieft und bereichert hat, werden viele nachdenklich und traurig: "Schade, dass ich meine Eltern nicht mehr befragen kann." – "Es gelingt mir nicht, mit meinen Eltern über ihr Leben zu reden. Sie weichen immer aus." Und auch umgekehrt: "Weißt du, meine Kinder interessieren sich nicht dafür, sie leben ihr eigenes Leben."

Seit Beginn der 90er Jahre beschäftige ich mich mit Lebensgeschichten. 1996 führte ich mit meiner – inzwischen leider verstorbenen – Kollegin Roswitha Marzahn ein Seminar zu diesem Thema durch. Es hieß "Unsere unerzählten Geschichten – die deutsche Landkarte mit Leben füllen." Sechs Tage waren wir ausschließlich mit dem Erzählen eigener und dem Erfahren anderer Lebensgeschichten beschäftigt. Aus Rückmeldungen der Teilnehmenden: "Es war das Erlebnis eines ganz intensiven Zuhörens. Verzicht auf Deutung, kein Druck zur Rechtfertigung – ein mich berührendes Erlebnis." - "Mir sind dadurch die Früchte meines bisherigen Lebens klarer geworden..." – Es lohnt also, sich die Zeit zu nehmen, sich gegenseitig seine Lebensgeschichte(n) zu erzählen. In unserem Seminar wurden übrigens – das war auch unser Anliegen – durch Geschichten nicht nur Brücken zwischen den Generationen, sondern auch zwischen Ost und West gebaut.


Allerdings: Die eigenen Geschichten zu erzählen und den anderen zuzuhören ist echte Arbeit. Und es ist auch ein Risiko: Was bis dahin hart war, kann weich werden, was eingepanzert war, kann in Bewegung kommen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass sich viele Menschen nicht wagen, ihre Eltern oder Großeltern nach bestimmten Perioden in ihrem Leben zu fragen bzw. dass diese sich weigern, darüber zu erzählen?

In meiner Vorstellung sitzen wir in Deutschland – Ost oder West, Nord oder Süd – auf einem Berg unerzählter Geschichten: aus dem "Dritten Reich", aus der Nachkriegszeit mit Flucht, Vertreibung, Neuansiedlung, Gefangenschaft, aus der Zeit des Aufbaus in der Bundesrepublik und der DDR, aus der Zeit der Etablierung beider Systeme und inzwischen auch aus der Zeit nach der politischen Vereinigung. Geschichten jedoch, die nicht erzählt werden, sind wie weiße Flecken auf einer Landkarte. Wie sollen sich die Wanderer, die Nachkommenden, orientieren? Um die weißen Flecken ihrer "Familienlandkarte" zu füllen, sind sie angewiesen auf die Geschichten – was ihnen nicht erzählt wird, wird gefüllt mit Fantasie, oder es entsteht ein Geheimnis, an das man nicht rühren darf, ein Tabu. Tabus in der Familiengeschichte bewirken Bindungen, die es Familienmitgliedern über mehrere Generationen hinweg erschweren können, ihren eigenen Lebensweg zu gehen.


Wir brauchen Geschichten, weil wir in ihnen leben. Stellen Sie sich vor, es wäre verboten, Geschichten zu erzählen, sie zu hören, sich an sie zu erinnern und in Geschichtenform zu denken! Was bliebe vom Leben übrig?

 

Ein weiteres Gedankenexperiment: Vergegenwärtigen Sie sich einen Menschen im Alter von ungefähr siebzehn oder vierzig Jahren, vielleicht sich selbst oder eines Ihrer Kinder oder Enkel. In diesem Alter stellt man sich oft Fragen, wie "Wer bin ich eigentlich?" oder "Was will ich aus meinem Leben machen?" Weiter: Stellen Sie sich nun vor, Sie wüssten gut Bescheid über das Leben Ihrer Eltern und Großeltern; wenn Sie fragen, wird Ihnen gern geantwortet, oft werden Episoden aus dem Leben der jeweiligen Personen erzählt... – Was gibt Ihnen das für ein Gefühl in Bezug auf den eigenen Platz in der Welt? Und nun stellen Sie sich vor, es würde kaum etwas erzählt; man spürt Tabus, Fragen werden abgewiesen oder umgangen... – Wie fühlt sich das an? Welche Impulse aus Ihrer Familie würden Sie in beiden Fällen für Ihr Leben erhalten?

Wenn ich nicht weiß, woher ich komme, wie kann ich dann wissen, wer ich bin? Wenn die Landkarte meiner Familie und Bezugspersonen vollständig ist, habe ich eine gute Orientierungsgrundlage. Auch wenn die Realität vielleicht anders ist, als ich es mir gewünscht hätte – ich kann mich zu ihr verhalten, mich auseinandersetzen, mich identifizieren oder distanzieren, Entscheidungen treffen. Mit Fiktionen geht das nur fiktiv. Die Suche nach Halt und Orientierung wird dann oft zu einer lebenslangen Beschäftigung...

Leider kommen oft Fragen und Einsichten zu spät. Wenn der eine bereit ist zu erzählen, ist die andere nicht bereit zum Zuhören, und wenn bei dieser die Fragen kommen, ist jener vielleicht nicht mehr in der Lage zu antworten. Dann beginnt oft ein Rekonstruktionsprozess: Fotos und andere Erinnerungsstücke werden gesichtet, Verwandte und Bekannte befragt. Aber die authentische Lebensgeschichte einer Person kann nur sie selbst erzählen. Was könnte man also tun, um die weißen Flecken zu tilgen und die Landkarte mit den realen Gebirgen und Ebenen, Wüsten und Oasen, Seen und Flüssen, Wäldern und Feldern, Villen und Hütten usw. zu zeichnen, bevor die Nachkommen zur Tünche greifen müssen?


Am besten wäre natürlich eine Gesprächskultur in der (Groß-)Familie, in der Geschichten und Traditionen lebendig erhalten werden. Jedoch geht der Trend bei uns offensichtlich in eine andere Richtung. Aber man kann den Nachteil in einen Vorteil umkehren, indem man das zu Erzählende speichert, so dass es abrufbar ist, wenn der "richtige Moment" gekommen, das Interesse wach geworden ist.


Jede Lebensgeschichte ist es wert, erzählt und in einer guten Gestalt weitergegeben zu werden!